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Aktuelles

07. Juni 2022

Einzelhandel auf dem Weg um Versorger zum Umsorger

Wer die Messe Eurocis, die kleine Schwester der Euroshop, besucht darf nicht viel Sinnlichkeit erwarten. Denn auf der heute zu Ende gehenden Ausstellung geht es vor allem um Technik: von Kassensystemen über Softwareprodukte bis hin zu Logistiklösungen. Dabei antworten die Anbieter auf viele strategische Fragen, die den Einzelhandel umtreiben. Nicht zuletzt, wie die Sinnlichkeit in die Städte zurückkommt. Aber auch, wie die Kundschaft mit allen Sinnen und so effektiv wie möglich angesprochen wird. Welche Trends sind also erkennbar?

Für die Dienstleister stellt sich auch eine ganz praktische Frage: Der stationäre Handel kommt an seine Umsatzgrenzen, brachte es der Vertriebler eines großen Technikkonzerns ausdrückte. Die Frage ist, wie kann der Einzelhandel weitere Einnahmen via elektronische Medien generieren und dem Internethandel Umsätze abnehmen?

Die Antwort, die sich auf der Messe abzeichnet, ist eindeutig: die Erlebniswelten von Smartphone-Kauf und stationärem Kauf miteinander verschmelzen. Einerseits effektiv in der Stadt einkaufen, andererseits dies als Erlebnis erfahren – wobei Effektivität (zumindest kurzzeitig) auch ein Erlebnis sein kann.

“Thrill of discovery” zurückbringen

„Unsere Aufgabe ist es, den „thrill of discovery“ in die Innenstadt zurückbringen“, definiert Andy Austin von Bank2loyalty das Ziel jeglicher Bemühungen. Und er erläutert, worum es am Ende geht: „Die Aufgaben eines stationären Händlers sind: Augenkontakt herstellen, Lächeln, den Kunden begrüßen und mit ihm ins Gespräch kommen.“ Sein Unternehmen bietet eine App an, die Kundendaten zusammenführt und auswertet.

„Wir müssen das Lachen und die Freude in die Innenstadt zurückbringen. Das geht nicht mit noch einer Filiale vom Gleichen“, sekundiert Ralf Haberich von Shopgate, einem Anbieter von MobilShopping-Apps. Aus seiner Sicht wollen Kundinnen und Kunden nicht zweimal in die Stadt kommen.

Sie wollen vorher wissen, ob es sich lohnt, sie wollen Dinge vor Ort ausprobieren und sie wollen das Gekaufte gleich mitnehmen können oder innerhalb weniger Stunden nach Hause geliefert bekommen. Sein Produkt hilft Filialisten, die Ware nicht mehr zentral einzulagern, sondern in den Filialen vor Ort. Bei einer Wunschbestellung ruft die App das Produkt in der Filiale ab, die es vorrätig hat, und berechnet die kürzesten logistischen Strecken dafür.

Technik muss nicht mehr aus einer Hand kommen

Die größte Herausforderung für Handelsunternehmen ist bisher, dass es viele spannende Insellösungen gibt, sich diese aber oft nicht gut miteinander verbinden lassen.

Doch einige Aussteller dieser Eurocis zeigen jetzt: Der Kampf, alles unter ein großes Dach zu bekommen und eine allumfassende Lösung bei einem teuren Großunternehmen zu bekommen, ist zum Scheitern verurteilt. Deshalb haben sich viele aufgemacht und schalten Plattformen dazwischen, die verschiedene Lösungen vom Gleichen zusammenbringen.

  • Zum Beispiel Messengerdienste: Auf vielen Kanälen können heute Bestellungen eingehen: Whatsapp, Telegram, Viber, Facebook-Messe Wie diese heute alle gleichzeitig im Blick behalten, bearbeiten und die Daten übernehmen? Oder wie sogar über diese auch eigene Angebote und Werbung ausspielen? Darüber hat sich Alcméon Gedanken gemacht und eine Plattform geschaffen, die alles zusammenbringt.
  • Zum Beispiel: Marktplätze. Die sind zwar für den Buchverkauf nicht immer relevant, aber Amazon Marketplace, Ottos Marktplatz, lokale Marktplätze etc. wie lassen die sich gemeinsam bespielen? Sicher ist, die Alpha-Tiere des Internets werden sich nicht zusammenschließen, das ist auch gar nicht gewünscht. Die Firma Stocksquare kann diese aber auf einer Plattform zusammenbinden und den Bestelleingang übersichtlich machen.

Wie bringt Technik Menschen und Ware zusammen?

Dies ist wohl die schwierigste Frage: Wie bringt Technik Menschen und Ware zusammen? Wie lässt sich das digitale Marketing verbessern?

Ob das mit der oben erwähnten App Bank2loyalty in Deutschland funktioniert, dürfte eher fragwürdig sein. Sie erstellt Stammkundenprofile, wie sie gute Einzelhändler bisher nur im Kopf haben: aus Verkäufen entsteht ein Bild, was jemand gern trägt oder liest, so dass passgenaue Angebote im Laden vorrätig gehalten werden können.

Alcémon bringt eine naheliegendere Variante ins Spiel. Werbung über die Messenger-Dienste. Dabei geht es darum, über die verschiedenen Dienste den allseits beliebten Handzetteln mehr Aufmerksamkeit zu verleihen.

Kundinnen und Kunden melden sich bewusst auf der Plattform an, um in bestimmten Formaten Handzettel mit (Sonder-)Angeboten zu erhalten. Diese können dann auf allen Plattformen (Whatsapp, Facebook Messenger, Telegram) gleichzeitig ausgespielt werden.

Wichtig dabei: Die Kundschaft muss einwilligen, weiter Werbung zu erhalten. „Die Messenger-Kommunikation ist die direkteste und die persönlichste“, so DACH-Director Martin Roesner.

Die andere Wahrnehmung bei stationärem Marketing

Das Problem: Stationäre Werbung wird anders wahrgenommen als das, was die Kundschaft im Internet schon gewöhnt ist. Das illustrierte der Teilnehmer einer Podiumsdiskussion: „Wenn ich als Stammkunde eines Filialunternehmens in meiner Heimat nach München komme, und in die dortige Filiale gehe, dann wäre es schon befremdlich, wenn die dortige Verkäuferin meine Kaufhistorie aufrufen könnte und mir auf den Kopf zusagen würde: ‚Sie haben letztes Mal die Boss-Unterhose gekauft, schauen Sie mal, wir haben jetzt ein tolles T-Shirt dazu.‘ Wenn mir nach einem Chat auf Whatsapp auf Facebook eine Werbung eingespielt wird mit einem Produkt, über das ich im Chat gesprochen habe, wundert mich das schon nicht mehr. Und wenn mich mein Italiener begrüßt und fragt, ob ich den gleichen Wein vom letzten Mal wieder haben möchte, dann fühle ich mich unter Umständen sogar zu Hause.“

Nähe und Distanz spielen im stationären und im digitalen Verkauf eine durchaus unterschiedliche Rolle. Doch vielleicht ist so manches eben auch eine Gewöhnungsfrage. Auch online sind die Menschen inzwischen deutlich mehr an Werbung und aufpoppende Fenster gewöhnt.

Sicher ist: Wenn stationärer und virtueller Verkauf sich immer weiter annähern, dann geht es nicht mehr nur darum, Kundinnen oder Kunden aus dem Netz in den Laden zu holen, sondern diese auch im Laden anzusprechen und weitere Kaufanreize über digitales Marketing auszuspielen.

„Dafür müssen Kunden auch im stationären Laden die Möglichkeit haben, sich für digitale Verkaufskanäle und Angebote zu registrieren, sei es durch Gewinnspiele, QR-Codes oder Veranstaltungshinweise“, so Albrecht Metter, von Ameria. Ameria stellt Displays her, die man bedienen kann, ohne dass sie berührt werden müssen.

Neue Aufgabenstellung: Vom Versorger zum Umsorger

Noch einen Schritt weiter geht Fressnapf, die stationäre Kette für Tierbedarf und -nahrung. Senior Vice President Benjamin Beinroth brachte die Strategie nach einem mehrjährigen Umdenkungsprozess mit einem Satz auf den Punkt, den sich auch der Buchhandel auf der Zunge zergehen lassen kann: „Wir wollen vom Versorger zum Umsorger werden.“

Er stellte die neue Online-Plattform vor, die mehr als ein Online-Shop ist. Fressnapf habe damit ein Ökosystem geschaffen, das die Tierbesitzerin und den Tierbesitzer durch alle Phasen begleite: Es vermittelt Züchter in der Umgebung, es bietet Termine für eine Erstberatung zum Tier an, vermittelt Erstausstattungskits in der Filiale vor Ort, dort finden sich in Zukunft Adressen für Tierarztpraxen und vieles mehr.

Fressnapf begleitet die Halterin und den Halter von der Wiege des Tieres bis zur Bahre, denn dort finden sich auch Informationen, wie man mit dem gestorbenen Tier umgehen kann und muss. „Wir können uns auch vorstellen, dass wir mal eine Art Tinder für Haustiere dazubauen“, so Beinroth. Auf jeden Fall könnten sich über diese Plattform auch Menschen treffen, die zum Beispiel gemeinsam mit ihren Hunden Gassigehen wollen.

Lässt sich das übertragen? Der Buchhandel als Umsorger für die Lesebiografie? Eine spannende strategische Fragestellung.

Sicher ist: Wer seine Kundinnen und Kunden in Zukunft umsorgen will, wird dies nicht nur im Laden tun. „Der Laden ist in Zukunft nicht mehr der Nabel, sondern nur ein Baustein in der Einkaufswelt der Kundinnen und Kunden“, brachte es ein Teilnehmer auf den Punkt.

Auch wenn die Eurocis vor allem eine Technik-Messe ist: Sie zeigte, dass sich viele Unternehmen und Dienstleister auf den Weg machen, auf hochkomplexe strategische Fragen praktische Antworten zu liefern. Und auch wenn sich nicht alles durchsetzen wird: Von der Messe geht eine starke Energie aus, auf der Suche nach einer eigenen Zukunft für den Einzelhandel, die haptische und digitalisierte Welt zusammenzubringen.

Quelle: Langendorfs Dienst   Link zur Messe: https://www.eurocis.com/

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